Porsche - Ein Mann, ein Wort

Ein Mann, ein Wort

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Heinz Strunk
schreibt an seinem neuen Projekt – und geht mit dem Porsche Taycan auf Recherchereise.

Auf der Suche nach dem Zauberberg II

Es ist etwas ganz Besonderes, Zeuge eines kreativen Prozesses zu sein. Umso mehr, wenn es dabei um die Neuauflage eines Jahrhundertwerks geht. Denn unser Gastautor – Schriftsteller und Multitalent Heinz Strunk – nimmt uns mit auf die Reise bei der Entstehung seines neuen Romans, des „Zauberberg II“. Im Porsche Taycan geht es von Hamburg weit in Richtung Osten, ans Stettiner Haff.

Die Geburt einer Idee

Zauberberg I

Vermutlich hat jeder Deutsche von Thomas Manns Zauberberg zumindest schon mal gehört. Ich kenne allerdings nur wenige, die sich durch den fast tausend Seiten starken Bildungsroman (Wälzer plus/minus tausend Seiten nennt man übrigens Blauwal) gekämpft haben, bis zum Ende durchgehalten hat kaum einer. Auch ich habe mehrere Anläufe genommen, mal bin ich bis Seite 80 gekommen, dann bis Seite hundertzehn, bis ich irgendwann aufgegeben habe. Der Zauberberg gilt als literarischer Mythos, Legende, in einer Reihe mit Goethes Werther, Kafkas Prozess oder Döblins „Berlin Alexanderplatz“.

Worum es geht: Der 23-jährige Hans Castorp fährt ins Sanatorium Berghof nahe Davos, um dort seinen Cousin Joachim zu besuchen. Doch übt die morbide Atmosphäre auf Castorp eine eigentümliche Faszination aus. Immer wieder verlängert er seinen Aufenthalt, bis er schließlich als regulärer Patient in der Klinik aufgenommen wird und dort ganze sieben Jahre bleibt.

„Fleisch ist mein Gemüse“

Als ich 1983 zunächst als Musiker gestartet bin, hätte ich nicht für möglich gehalten, dass mir, über viele Umwege, zwanzig Jahre später ausgerechnet in der Literatur der Durchbruch gelingen sollte. Meinem Debut „Fleisch ist mein Gemüse“ folgten zwölf weitere Bücher, Drehbücher, Theaterinszenierungen, Podcasts, Radio- und Fernsehsendungen; es gibt wenig, worin ich mich nicht schon mal versucht habe.

Herausragende Ideen sind Basis einer erfolgreichen künstlerischen Laufbahn; Phantasie, Vorstellungsvermögen und Materialbeherrschung selbstverständliche Vorausetzungen. Denn eine zündende Idee von einem mittelmäßigen Einfall zu unterscheiden, spart viel Zeit, an einem Rohrkrepierer kann man sich ewig abarbeiten.

Just show up and get to work!

Nach wie vor verbreitet ist die Vorstellung, dass Ideen den Künstler anfallen oder irgendwie im Schlaf kommen. Die Wahrheit ist: „Inspiration is for amateurs; the rest of us just show up and get to work.“ (Chuck Close). Amateure warten auf Inspiration, Profis setzen sich hin und arbeiten. Darauf zu warten, dass der Geistesblitz einschlägt oder man von der Muse geküsst wird, ist die todsichere Methode, sein Werk niemals zu schaffen. Also: In meinem Fall sind es vier Stunden täglich, gestoppt mit einem digitalen Küchenwecker. Also vier Stunden NETTO. (Wer sich selbst bescheißt, bescheißt das Leben, und das haben schon ganz andere versucht.)

Wer unter Schreibblockaden, Schaffenskrisen oder unproduktiven Phasen leidet, dem empfehle ich einen Berufswechsel. Meiner Erfahrung nach kommt bei vier Stunden konzentrierter Arbeit immer etwas rum, sicher keine genialen Einfälle am laufenden Band, aber eine originelle Formulierung, eine präzise Beobachtung, ein überraschender Handlungswendepunkt; einen Roman zu schreiben, ist harte, teils quälende Arbeit: kleine Schritte, durchhalten, manchmal auch nur Augen zu und durch!

Aber wer brav und fleißig ist, hat das (seltene) Glück, belohnt zu werden in Gestalt einer Idee, die dann wirklich einfach mal so angeflogen kommt. Und wenn es sich um eine erstklassige Idee handelt, spürt man das sofort. Sie setzt Energie frei, löst körperliche Reaktionen aus, euphorisiert.

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Zauberberg II

Vor einigen Jahren hieß eine solche Idee „Zauberberg II“. Was für ein gewagter Coup, diesem heiligen literarischen Gral einen Teil II folgen zu lassen und den dann auch noch ganz profan so zu nennen. Mit der Idee kamen sogleich die Bedenken: Verfüge ich über die handwerklichen und stilistischen Vorausetzungen, einen Roman zu schreiben, der mehr ist als Parodie, Satire, Nachahmung, sondern sich hinter dem Original nicht zu verstecken braucht? Außerdem müsste ich mich zu Recherchezwecken durch den Zauberberg von vorn bis hinten durchackern und mich zudem in ein Sanatorium begeben, um mir ein Bild von den Abläufen, den Daily Routines, zu verschaffen. Basiskenntnisse, ohne die ein solches Projekt nicht gelingen kann.

Dazu hatte ich weder Zeit noch Lust, außerdem galt es zunächst einmal, meinen Roman „Ein Sommer in Niendorf“ abzuschließen. Als dieser dann im Sommer 2022 überraschend Platz 1 der SPIEGEL-Liste erklomm und das Feuilleton Vergleiche mit „Der Tod in Venedig“, Thomas Manns berühmtester Novelle, anstellte, bekam der „Zauberberg II“ neuen Schub.

Und als ich dann noch erfuhr, dass der Zauberberg am 20. November 2024 einhundert Jahre alt wird, stand fest, dass ich mir diese einmalige Gelegenheit nicht durch die Lappen gehen lassen durfte. Im Winter 2022 habe ich mich in eine psychosomatische Klinik begeben, das Original gelesen und als Undercoverpatient während meines 14-tägigen Aufenthalts fleißig recherchiert

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Let’s move!

Es ist ein alter Hut, dass Bewegung auch den Gehirnstoffwechsel stimuliert. Laufend im Park ist allemal besser als sitzend am Schreibtisch. Auch höre ich beim Joggen nie Musik, sondern nehme mir gewissermaßen vor, von einer Runde durch den Park auch eine Idee mitzubringen. Eine Autofahrt ist mit Joggen oder Fahrradfahren natürlich nur bedingt vergleichbar, aber mich im Pkw auf die Suche nach einem möglichen Schauplatz für den „Zauberberg II“ zu begeben, hatte einen außerordentlichen Reiz.

Einerseits müsste ich mich am Original orientieren, mich andererseits von ihm lösen. Deshalb sollte mein „Zauberberg“ nicht in den Schweizer Alpen spielen, sondern auf dem platten Land. Nach eingehender Google-Maps-Recherche schien mir der in der Nähe der polnischen Grenze gelegene Peenemünder Haken, ein dünn besiedeltes Niemandsland zwischen Peenestrom, Greifswalder Bodden und Ostsee, ein idealer Ort für mein Sanatorium zu sein. Im Unterschied zum Zauberberg auch keine Lungen-, sondern eine psychosomatische Klinik.

Mein Trip soll mich über Land von Hamburg nach Anklam am Unterlauf der Peene führen, um von dort aus die Gegend zu erkunden, einen Standort für die (fiktive) Klinik zu finden und unter den Eindrücken einen Handlungsbogen für meinen Roman zu schreiben. Für meine Recherche habe ich einen Porsche Taycan zur Verfügung gestellt bekommen. Da ich noch nie ein Elektroauto gefahren habe, bin ich tatsächlich gespannt darauf, wie sich das so anfühlt.

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On the road

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Montag, 11. September 2023

Um 6.27 Uhr ist für mich die Nacht zu Ende. Es ist ein grelloranger, schwüler und brütender Morgen. Ich suche mit meinem Kopf auf dem Kissen eine noch unberührte, kühle Stelle und versuche wieder einzuschlafen. Erfolglos. Als ich dann um kurz vor halb zehn aus der Haustür trete, schlägt mir die Luft wie ein heißer Lappen entgegen, laut Vorhersage ist dieser 11. September der letzte Hochsommertag des Jahres. Auf dem Weg zur Tiefgarage besorge ich Cappuccino to go, Avocado-Schwarzbrot, ein Franzbrötchen.

Mein Fotograf Dennis Dirksen und ich starten in Hamburg-Sternschanze kurz vor zehn mit einer Stunde Verspätung, weil die Drohne nicht rechtzeitig gekommen ist. Zunächst geht es auf der A  1 Richtung Lübeck, dann weiter über die A 20, bis wir in Rostock für einen kurzen Lade-Stopp rausfahren. Es ist mörderisch heiß, die Sonne drischt mit stählernem weißem Hammer auf uns ein. Nach drei Stunden verlassen wir die Autobahn und fahren auf der L 199 Richtung Anklam; wann immer wir ein aussichtsreiches Motiv entdecken, legen wir einen Zwischenstopp ein, gefühlt entstehen an diesem ersten Tag bereits fünfhundert Fotos. Der in der Nähe von Anklam gelegene Bartels Landgasthof befindet sich inmitten der Pampa, mehr Niemandsland geht nicht. Polenrandgebiet. Nachdem wir unsere Zimmer bezogen haben, nehmen wir bereits um 19 Uhr unser Abendessen ein, Königsberger Klopse mit saurer Soße und Kapern. Hausmannskost de luxe, habe ich seit Ewigkeiten nicht mehr gegessen.

Obwohl das Licht immer noch gleißend, grell und luftlos ist, gehe ich aufs Zimmer, erste Ideen für den Roman sammeln.

Auf dem einzigen Tisch eine Schale voller auf Hochglanz polierter Äpfel, alle identisch in Form und Größe. Zunächst einmal gilt es, die Hauptfigur zu kreieren. Schriftsteller, die behaupten, dass sämtliche Figuren frei erfunden sind und nichts mit ihnen zu tun haben, sagen nicht die Wahrheit. Mein Held und ich haben jedenfalls eine ganze Reihe von Ähnlichkeiten, allerdings ist er mit 36 bedeutend jünger und hat eine völlig andere Biografie: Jonas Heidbrink, so soll er heißen, ist mit einer einzigen Idee reich geworden, welche genau, wird zunächst einmal offengelassen. Nachdem er sein Start-up an ein global agierendes Techunternehmen verkauft hat, weiß er mit sich und seinem Leben nichts anzufangen und gerät in eine schwere Sinnkrise. In seiner Not beschließt er, in einer psychosomatischen Privatklinik Hilfe zu suchen. Nach intensiver Recherche fällt seine Wahl auf ein Sanatorium im dünn besiedelten Niemandsland nahe der polnischen Grenze.

Das ist für den Anfang schon mal ganz gut. Eine halbe Flasche Rotwein befördert mich ins Land der Träume.

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Dienstag, 12. September 2023

Von Osten sickert Helligkeit durch das Fenster, ein neuer Tag, seit Anbeginn aller Tage angekündigt von der Morgenröte. 7 Uhr, es ist noch angenehm kühl, ich setze mich ans Fenster und schaue nach draußen, wo sich eine scheinbar endlose Sumpflandschaft auftut, offenbar Brut- oder Nistgebiet von Kranichen, die dicht gedrängt, Flügel an Flügel, wie ein Teppich das Ried bedecken. Zwei besonders große Exemplare stolzieren mit ausgebreiteten Flügeln auf und ab. Einer trompetet ein Melodiefragment, der andere greift das Motiv auf und wiederholt es in kurzem Abstand. So könnte der Ausblick aus Heidbrinks Sanatoriumszimmer aussehen. Um 9 Uhr bin ich mit Dennis zum Frühstück verabredet, mir bleibt also noch reichlich Zeit zum Schreiben:

An einem eisigen Januartag macht sich Heidbrink auf die Reise und erreicht gegen Mittag sein Ziel. Hier ist nichts. Kein Haus, keine Maus, kein Hof, kein Gehöft, keine landwirtschaftlichen Stallungen. Plötzlich erheben sich vor ihm die Umrisse des Klinikums, einem ehemaligen Schloss, aus der grauen Emulsion des Wintertages.

Er betritt das Foyer, wo er von Schwester Irene, einer freundlichen Frau, mit einem runden, etwas ausdruckslosen Gesicht, eingecheckt wird. Irene strahlt eine seifige Frische aus, ihr Haar ist mit Kämmen an den Seiten zu einer aufgeplusterten, schaumigen Pilzfrisur hochgesteckt.

Irgendwie herrscht eine eigentümliche Atmosphäre, wie nach einer Räumung bei einer Bombendrohung. Dann geht’s direkt weiter zur psychiatrischen Aufnahme. Heidbrinks behandelnder Arzt heißt Dr. Reuter, ein erstaunlich junger, dicklicher Mann mit Patschehändchen und schütterem rotblondem Haar. Bei der Anamnese berichtet Heidbrink, dass er vor einem Jahr, in der Badewanne sitzend, scheinbar völlig grundlos in Tränen ausgebrochen sei. Das sei jedoch kein normales Weinen gewesen, sondern wilde, sich überlagernde Eruptionen, wie das Wimmern eines waidwunden Tieres. Ihm war gleich klar, dass es etwas Ernstes ist, dieser Anfall nur der Vorbote von etwas Furchtbarem, sollte er nichts dagegen unternehmen. Schon seit Ewigkeiten habe er mit Depressionen zu kämpfen, die Verzweiflung hätte sich im Verlauf der Zeit in tiefe Melancholie gewandelt, grelle Depression in dumpfe Traurigkeit. Ab und an murmelt Dr. Reuter „ja“, „tja“ oder „mmh“ oder „ahhh“ oder was ganz anderes und nickt, als wäre sein Kopf aus Holz und jemand anders zöge an den Fäden.

Ich bekomme eine SMS von Dennis, er drängt zum Aufbruch. Erste Station ist das am Stettiner Haff gelegene Ueckermünde, am Nachmittag soll es dann weiter nach Löcknitz gehen, morgen Penkun, und Schwedt (Oder) ist die Endstation unserer Reise.

Sommerstille liegt über der Landschaft, es ist einer dieser stillen, beruhigenden Tage, an denen das Licht gleichmäßig aus allen Himmelsrichtungen strömt. Stets auf der Suche nach lohnenden Motiven, legen wir immer wieder Stopps ein. In Ueckermünde folgen wir der Beschilderung Richtung Strand. Die Straße endet am kleinen Hafen. Das Wasser riecht stechend und brackig, auf der Wasseroberfläche liegt eine trübe, quecksilbrige Schicht. Am Hafenausgang sitzen zwei Frauen, die uns den Weg zum Strand zeigen. Vor uns tut sich das Stettiner Haff riesig und weit auf. Ein Magic Place, ein verzauberter Ort. Könnte hier, verborgen hinter Schilf und Ried, eine Klinik stehen? Wir machen Fotos. Auf dem Weg nach Löcknitz holen wir uns an einer Tanke Kaffee und belegte Brötchen und vespern auf einer Bank. Die Nachmittagssonne ist wie etwas Lebendiges, ein weites, helles Licht. In Löcknitz schauen wir uns den historischen Ortskern an, besichtigen den Bergfried der ehemaligen mittelalterlichen Burg, bevor es zurück zu Bartels Landgasthof geht.

Nach dem Abendessen (mit Hack und Feta gefüllte Paprika) gehen wir aufs Zimmer, Dennis zum Sichten und Bearbeiten der Fotos, ich, um mit der Handlung voranzukommen:

Der psychiatrischen schließt sich die allgemeinmedizinische Aufnahme an. Doch beim Check-up droht die ganze Sache ein vorzeitiges Ende zu nehmen. Bei der sonografischen Untersuchung entdeckt Dr. Börner, Typ preußischer Militärarzt, eine Ausstülpung in der linken Niere, eine sogenannte Raumforderung. Börner vermutet einen Tumor. Als ob das nicht reicht, sichtet Börner eine besorgniserregende Hautveränderung am Bauch und tippt auf ein malignes Melanom, schwarzer Hautkrebs! Heidbrink ist schockiert und kurz davor, die Heimfahrt anzutreten, kann von Dr. Börner jedoch überredet werden, die Ergebnisse der histologischen Untersuchung abzuwarten.

Ein erster, gut gesetzter Wendepunkt!

(Eine Wendepunkt lenkt die Handlung in eine neue, unerwartete Richtung. Die Funktion von Wendungen besteht darin, den linearen Verlauf der Handlung zu durchbrechen und das Interesse des Lesers zu binden.)

Heidbrink, der sich aufgrund einer seelischen Schieflage ins Sanatorium begeben hat, ist also womöglich todkrank. Enthusiasmiert von der Idee, kaue ich heftig auf dem Metallring meines Bleistifts herum, bis er der Länge nach durchbricht. Das Gegnabbel löst einen sauer schmeckenden, elektromagnetischen Schmerz in den Zahnfüllungen aus. Eklig. Gleich halb eins, Schlafenszeit.

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Mittwoch, 13. September 2023

Ich wache um 6.45 Uhr auf. Der Sumpf liegt noch großteils im Dämmer, die Bäume scheinen wie Flecken auf schwarzer Leinwand. Kraniche segeln mit reglos gespreizten Flügeln durch die Lüfte, bevor sie in lang gezogenen Ketten zur Erde sinken, begleitet von Trillern, Schmettern und Fanfarenrufen, eine lebendige Klangwolke. Weiter am Roman:

Dr. Reuter hat für Heidbrink einen individuellen Therapieplan ausgearbeitet. In den kommenden Tagen bestimmen Musik, Foto und Theatertherapie, Tanz und Bewegung, Bibliografie sowie Einzel- und Gruppengespräche seinen Alltag. Heidbrink empfindet die Sitzungen als peinlich, lächerlich, unangenehm, zudem bezweifelt er ihre Wirksamkeit. Außerdem findet er nur schwer Anschluss, gleichermaßen unbeliebt wie unsichtbar, ein Eckensteher, Mauerblümling, Staubfänger, Ladenhüter, wie früher auf Klassenfahrten oder im Jugendlager. Ein starkes Verlangen nach Anerkennung und Zugehörigkeit kommt in ihm auf. Er wünscht sich, was sich jeder wünscht: gemocht zu werden, einen kleinen Schatten zu werfen. Patient unter Patienten.

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Aus Spaß entwerfe ich die ersten Charaktere.

Die Musiktherapeutin: eine freundliche Frau in den Dreißigern, hört auf den unschlagbar nichtssagenden Namen Svenja Behrens. Ihr leuchtend oranger Norwegerpulli und der Schal im gleichen Farbton sehen selbst gestrickt aus und korrespondieren mit ihren mattrötlichen Dreadlocks. Eine Do-it-yourself-Frau, eine selbst häkelnde, selbst brennende, ihr Tiny House selbst zimmernde Selbstversorgerin – handmade, handcrafted, homegrown, homespun.

Die Oberärztin: Felizitas Schröder ist eine asketisch wirkende, sehr schlanke Frau in den Vierzigern, Typ Privatschuldirektorin. Die hellrot geschminkten Lippen betonen ihr scharf geschnittenes, blasses Gesicht, die Wangen sind fast durchsichtig, wie sehr dünn geschnittene Fischfilets in Sushi-Qualität.

Ein junger Patient namens Simon: Aus der Entfernung ist sein Gesicht so verpickelt, dass es zu glühen scheint. Augäpfel von einem Meter Durchmesser schauen hinter einer gewaltigen Brille hervor und schwappen hinter den Gläsern hin und her.

Siegfried: ein kleiner, eierschalenblasser Mann mit papierenem Gesicht, das von einem schmalen Stummfilmschnurrbärtchen in zwei Teile geschnitten wird.

Sowas macht richtig Spaß!

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Um kurz nach neun checken wir aus und machen uns auf den Weg nach Penkun. Die Stadt liegt eingebettet zwischen sieben Seen, etwa in der Mitte des Dreiecks Prenzlau, Stettin, Schwedt (Oder). Das Licht ist anders hier, pergamentene Helligkeit liegt in der Luft, wie das Licht alter Zeiten. Der Sog der Vergangenheit ist übermächtig.

Weiter geht es über die B 2 zur letzten Station Schwedt (Oder). Wie immer legen wir Zwischenstopps ein und fotografieren fleißig. Wir erreichen Schwedt gegen 17 Uhr und nehmen dort in einem Café unser Abendessen ein: mit Zwiebeln, Gurken, Senf und Speck gefüllte Rinderrouladen auf Erbsenpüree. Während Dennis die Fotos sichtet und schon mal grob bearbeitet, versuche ich mich an einem Ende für den ersten Buchteil:

Heidbrink befindet sich seit eine Woche in der Klinik, als die histologischen Befunde eintreffen: Der Nierentumor ist gutartig, die Hautveränderung lediglich ein Muttermal. Bedeutet komplette Entwarnung. Die zweite Woche ist ein Wiedergänger der ersten: Dreimal täglich werden die Vitalwerte gemessen, nach Frühstück und morgendlicher Visite schließt sich die erste Therapieeinheit an, nach dem Mittagessen folgen zwei weitere. Nach dem Abendbrot um 19 Uhr liest er oder sieht fern. Die Monotonie, die immer gleichen Abläufe haben etwas Beruhigendes, allerdings bleibt sein Gemütszustand nahezu unverändert. Als auch die vierte Woche ohne nennenswerte Fortschritte verstreicht, betrachtet Heidbrink das Experiment als gescheitert. Doch in der Nacht vor der Entlassung erkrankt er an einer akuten Mittelohrentzündung, die ihn zwingt, vorerst im Sanatorium zu bleiben …

Gutes Ende für Teil 1, den ich ausgeschrieben auf 120–150 Seiten taxiere.

Wir packen unsere Sachen und treten in der Dämmerung die Heimfahrt an. Fast etwas wehmütig – der Taycan war ein guter Reisegefährte. Die Sonne sinkt in einen lachsrosa Schleier hinein und steht als bloße Scheibe zwischen den Bäumen, bis sie einen letzten leuchtenden Strahl durch die Windschutzscheibe wirft.

Text Heinz Strunk
Fotos Dennis Dirksen