Porsche - Ein Quantum Kraft

Ein Quantum Kraft

[+]

Chefstrategen im Dialog: Fritz Enzinger (links), Leiter des LMP1-Programms, und Alexander Hitzinger, Technischer Direktor.

Jetzt ist es wieder passiert: Porsche hat sich im Renntempo ein neues Technologiefeld erschlossen. Beim Mission E setzen die Entwickler auf die 800-Volt-Technik aus dem Porsche 919 Hybrid.

Mut ist auch eine Frage des Vorstellungsvermögens. Alexander Hitzinger, Technischer Direktor des LMP1-Programms, kann sich eine Menge vorstellen und hat sich getraut, beim Le-Mans-Sieger, dem Porsche 919 Hybrid, alles auszureizen, was machbar erschien. Das gilt vor allem für das Antriebskonzept. Zur Erinnerung: Es besteht aus einem Zweiliter-Vierzylinder-Turbobenziner, dem effizientesten Verbrennungsmotor, den Porsche bis dato gebaut hat, und zwei unterschiedlichen Energierückgewinnungssystemen.

Beim Bremsen wird an der Vorderachse kinetische in elektrische Energie umgewandelt. Im Abgastrakt sitzt außer dem Turbolader noch eine zweite Turbine, die überschüssige Energie ebenfalls in elektrische Energie umwandelt. Der Beitrag der Bremsenergie liegt bei 60 Prozent, jener aus dem Abgas bei 40 Prozent. Der gewonnene elektrische Strom wird in einer Lithium-Ionen-Batterie zwischengespeichert und speist bei Bedarf einen Elektromotor. Bedarf heißt an dieser Stelle: Der Fahrer will beschleunigen und ruft die Energie per Knopfdruck ab. Die Leistung des Verbrennungsmotors gibt Hitzinger mit „deutlich über 500 PS“ an. Die Leistung aus der E-Maschine legt er mit „deutlich über 400 PS“ fest.

[+]

Power auf Knopfdruck: Der Elektromotor presst die Rennfahrer ad hoc mit über 400 zusätzlichen PS in die Sitze.

[+]

Das Zusammenspiel dieser beiden Quellen erfordert eine ausgeklügelte Strategie. Auf der Rennstrecke sieht das so aus: In jeder Bremsphase sammelt der Speicher Energie ein – es wird rekuperiert. Auf einer der 13,6 Kilometer langen Runden in Le Mans geschieht das 38 Mal, vor jeder Kurve. Mal mehr, mal weniger stark. Abhängig ist dies von der Heftigkeit des Manövers, sprich: von der Geschwindigkeit, mit der die Piloten auf die Kurve zugeschossen kommen, und davon, wie eng die folgende Kurve ist. Bis zum Scheitelpunkt jeder Kurve wird gebremst und rekuperiert, dann beschleunigt der Fahrer wieder. Und genau für diesen Moment soll so viel Energie wie möglich zur Verfügung stehen.

Zum einen tritt der Fahrer voll aufs Gaspedal – und ruft so Kraftstoffenergie ab –, zum anderen boostet er mit elektrischer Energie aus dem Speicher. Während der Verbrennungsmotor die Hinterachse antreibt, ist der Elektromotor für die Vorderachse zuständig. Der 919 Hybrid jagt also mit Allradantrieb aus der Kurve – und sammelt zeitgleich bereits wieder Energie ein. Vor allem auf der extrem langen Hunaudières-Geraden, wo der 919 Hybrid über 330 km/h schnell wird, ist die Turbine im Abgastrakt fleißig. So weit, so einfach. Allerdings sind beide Energiequellen limitiert: Mehr als 4,65 Liter Benzin pro Runde darf der Wagen nicht abrufen, und auch nicht mehr als 2,22 Kilowattstunden elektrischen Strom.

Der Pilot muss also sorgfältig haushalten, damit er am Ende der Runde exakt im Plan ist und kein Jota mehr verbraucht hat als erlaubt, aber möglichst auch nicht weniger. Es ist ein Drahtseilakt: Verbraucht er mehr, wird er bestraft. Nutzt er weniger, verliert er an Performance. Die Kunst besteht darin, exakt zum richtigen Zeitpunkt aufzuhören, mit elektrischer Energie zu boosten, und im richtigen Moment vom Gas zu gehen.

[+]

Zeitweise mit Allradantrieb: Die beim elektrischen Boosten zusätzlich angetriebene Vorderachse lässt den 919 Hybrid verlustfrei mit der gesamten Systemleistung von rund 1000 PS beschleunigen.

Die 2,22 Kilowattstunden elektrischer Energie entsprechen acht Megajoule – das ist die höchste Energieklasse, die das Reglement vorsieht. Porsche war der erste und 2015 auch der einzige Hersteller, der sich so weit vorgewagt hat. Audi und Toyota konnten nur vier beziehungsweise sechs Megajoule darstellen. Dass sich Porsche diese Spitze zutrauen konnte, ist mutigen Grundlagenentscheidungen zu verdanken.

„Die Konzeptauswahl war davon getrieben, dass wir uns die einzelnen Alternativen im Detail angeschaut haben“, blickt Hitzinger zurück. Dass man die Bremsenergie von der Vorderachse nutzen würde, war sofort klar. Das nennt der Techniker einen „no-brainer“ – fette Energiebeute auf teilweise bereits erschlossenem Terrain, gepaart mit massiver Weiterentwicklung. „Als zweites System kam eine Bremsenergie-Rückgewinnung an der Hinterachse oder eben die Abgasenergie-Rückgewinnung infrage.“ Zwei Aspekte sprachen für die Abgaslösung: erstens das Gewicht und zweitens die Effizienz. „Bei der Bremsenergie-Rückgewinnung muss das System die Energie innerhalb sehr kurzer Zeit rekuperieren, also mit sehr viel Leistung umgehen, und das geht zulasten des Gewichts. Die Beschleunigungsphasen hingegen sind viel länger als die Bremsphasen, es wird also über längere Zeit rekuperiert, und das macht das System leichter. Außerdem“, ergänzt Hitzinger, „haben wir durch den Verbrenner ja bereits einen Antrieb auf der Hinterachse. Mit noch mehr Leistung hinten hätten wir mehr Schlupf erzeugt.“ Schlupf ist quasi das Gegenteil von Effizienz und macht zudem die Reifen kaputt.

Die wahrscheinlich mutigste Grundlagenentscheidung: Für das Hybridsystem des 919 setzte Hitzinger auf 800 Volt. „Die Spannungslage anzusiedeln war eine fundamentale Entscheidung beim Elektroantrieb“, betont er, „sie beeinflusst alles – Batterie-, Elektronik- und E-Maschinen-Design, Lade-Technologie und Lade-Infrastruktur. Wir sind dabei so weit gegangen, wie es nur irgend möglich war.“

[+]

Haushalten als Erfolgsrezept: Aufgrund der vorgegebenen Energiemenge pro Runde muss der Pilot im richtigen Moment vom Gas gehen und den elektrischen Zusatz-Boost gezielt einsetzen.

Es war schwierig, für diese hohe Spannung Bauteile zu finden, vor allem ein geeignetes Speichermedium. Schwungradspeicher, Superkondensatoren oder Batterie? Hitzinger entschied sich für eine flüssigkeitsgekühlte Lithium-Ionen-Batterie. Sie verfügt über Hunderte einzelner Zellen, jede eingeschlossen in einer eigenen zylindrischen Metallkapsel, sieben Zentimeter hoch und 1,8 Zentimeter im Durchmesser.

[+]

Trockenübung: Renningenieur Kyle Wilson-Clarke und Pilot Mark Webber studieren Strategiebefehle und Schalterkombinationen.

Bei einem Straßenmodell ebenso wie bei einem Rennwagen muss abgewogen werden zwischen Leistungsdichte und Energiedichte. Je höher die Leistungsdichte einer Zelle, desto schneller kann sie geladen werden und Energie wieder abgeben. Der andere Parameter, die Energiedichte, bestimmt die Menge der Energie, die gespeichert werden kann. Im Rennbetrieb muss die Zelle – bildlich gesprochen – eine riesige Öffnung haben. Denn sobald der Fahrer auf die Bremse tritt, muss auf einen Schlag eine gewaltige Energiemenge hinein, und wenn er boostet, muss sie genauso schnell wieder hinaus. Für daheim kann man sich das so vorstellen: Hätte die leere Lithium-Ionen-Batterie eines Smartphones die Leistungsdichte der 919-Batterie, läge sie nach etwa zwanzig Sekunden Ladezeit wieder bei 100 Prozent. Der Nachteil: ein kurzer Anruf – und der ganze Saft wäre bereits wieder weg. Damit das Smartphone tagelang durchhält, steht die Energiedichte im Vordergrund, also die Speicherkapazität. Übersetzt auf ein Elektroauto im Alltagsbetrieb bedeutet Speicherkapazität Reichweite. „In dem Punkt sind die Bedürfnisse eines Rennwagens und eines Elektroautos für die Straße verschieden“, sagt Hitzinger, „aber wir sind beim 919 in Regionen des Hybridmanagements vorgestoßen, die bis dahin unvorstellbar waren.“

Im Mission E sind sogenannte permanenterregte Synchronmotoren vorgesehen – sie sind praktisch die zivilen Brüder der Motor-Generator-Einheit (MGU) aus dem Le-Mans-Siegerauto. „Der 919 war das Versuchslabor für das Spannungsniveau von Hybridsystemen“, fasst Hitzinger nicht ohne Stolz zusammen. Aus dieser Erfahrung gewannen die Kollegen in der Serie den Mut, die Konzeptstudie Mission E mit 800-Volt-Technik vorzustellen. Von der Rennstrecke auf die Straße: perfektes Teamwork à la Porsche.

Autorin Heike Hientzsch
Fotograf Frank Kayser und Porsche