Porsche - Alles unter Kontrolle

Alles unter Kontrolle

Was nach einem überdimensionalen Videospiel aussieht, liefert die entscheidenden Erkenntnisse für den Einsatz des 919 Hybrid: der Fahrsimulator von Porsche Motorsport im Forschungs- und Entwicklungszentrum Weissach. Das Rennen vor dem Rennen.

Tertre Rouge, eine lang gezogene Rechtskurve, vierter Gang. Aufs Gas, herausbeschleunigen, die Schaltanzeige leuchtet grün, gelb, dann rot. Brendon Hartley zieht kurz an der Schaltwippe, fünfter Gang. Mit 320 km/h geht es auf der Hunaudières-Geraden auf die erste Schikane zu. Runterbremsen, dritter Gang. Die Leitplanken und die Häuser am Streckenrand fliegen an ihm vorbei. Hartley hört den Motor schreien. Während er über die gelbblauen Curbs fährt, ruckelt es im Cockpit. Tritt er auf die Bremse, wird er in die Gurte gepresst. Trotzdem bewegt er sich keinen Meter von der Stelle.

Der 24 Jahre alte Porsche-Werksfahrer ist auf Zeitenjagd in Le Mans - in Weissach. Er sitzt im Fahrsimulator von Porsche Motorsport. Das Cockpit, das momentan noch dem RS Spyder entspricht, aber bald dem 919 Hybrid weichen wird, thront wie eine Weltraumkapsel auf sechs Stelzen in rund eineinhalb Meter Höhe. Eingerahmt von einer riesigen halbkreisförmigen Leinwand, auf der die virtuelle Strecke zu sehen ist. "Brendon, alles okay?", fragt Entwicklungsingenieur Kai Fritzsche, der hinter ihm im durch Glasscheiben abgetrennten Kontrollraum vor drei Computerbildschirmen sitzt. Fritzsche beobachtet Diagramme, die die Software in Echtzeit ausspuckt und die an ein EKG erinnern. Was flüchtig wie ein überdimensionaler Traum für Computerspiel-Fans wirkt, ist in Wirklichkeit die Schaltzentrale der Entwicklung. Denn neben den Testfahrten auf der Strecke ist der Fahrsimulator von Porsche Motorsport das Versuchslabor der Ingenieure. Er dient nicht in erster Linie als Trainingsgerät für die Piloten, mit dem sie richtige Rennen fahren, sondern vor allem als Werkzeug der Techniker. Nirgendwo sonst lassen sich bei immer gleichbleibenden Bedingungen das ganze Jahr über unter an-­nähernd realen physikalischen Bedingungen neue Teile, verschiedene Set-up-Einstellungen und Strategien testen. Oder an einem Tag in Le Mans, in Bahrain und in Monza fahren. "Bei einem Test braucht man die Mannschaft an der Strecke, die neuen Teile und ist vom Wetter abhängig", sagt Fritzsche. "Das entfällt hier. Wir schaffen immer die geforderten Bedingungen, die es uns ermöglichen, bei wenig Kostenaufwand neue Entwicklungen kurzfris­tig auszuprobieren und uns so vorab eine Tendenz zu geben. Wir brauchen nur einen Techniker und einen Fahrer."

Hartley gehört dabei zu den Piloten mit der meisten Erfahrung. Der Neuseeländer war Simulator-Entwicklungsfahrer in der Formel 1. Im echten Rennen gewann er unter anderem 2007 den Eurocup 2.0 der Renault World Series. In der vergangenen Saison ist er in Le Mans und der European Le Mans Series in der LMP2-Klasse (Le-Mans-Prototypen) angetreten. In dieser Saison gehört er zu den sechs Werkspiloten, die mit dem Porsche 919 Hybrid in der LMP1-Klasse in der Sport­wagen-Langstrecken-Welt­meisterschaft (World Endurance Championship) starten. Das 24-Stunden-Rennen von Le Mans bildet dabei den legendären Höhepunkt.

Während er durch die Streckenabschnitte mit den klangvollen Namen Mulsanne, Arnage oder Porsche-Kurven fährt, bewegen sich die Stelzen des Simulators wie Spinnenbeine auf einer großen Plattform hin und her. Diese Bewegungen vermitteln dem Fahrer das Gefühl, tatsächlich im 919 Hybrid zu sitzen. "Die Bremse fühlt sich wirklich klasse an", gibt Hartley an Fritzsche durch. Nach rund 15 Minuten macht der Blondschopf, dessen Surfer-Mähne auch noch sitzt, nachdem er den Helm abgenommen hat, eine Pause. Damit der Fahrer aussteigen kann, fährt der Simulator ganz an den Rand. Denn die Plattform, auf der die Stelzen stehen, ist extrem empfindlich. Weil sie wie Luftkissen über den Stahl gleiten, wäre schon ein kleiner Kratzer fatal.

Auch geübte Rennfahrer benötigen eine Eingewöhnungsphase für den Simulator. Denn der menschliche Körper kämpft mit dem entgegengesetzten Phänomen der Seekrankheit. Auf einem Schiff wird uns mulmig, weil unsere Augen keine Bewegung wahrnehmen, aber wir dennoch herumschaukeln. Beim virtuellen Training scheinen wir uns auf der Strecke zu bewegen, der Körper rührt sich jedoch nicht von der Stelle. Das Gehirn wird ausgetrickst. "Insgesamt würde ich ihn aber nicht missen wollen", sagt Hartley. "Er ist sehr nah an der Realität. Ich kann schon kleinste Veränderungen am Set-up spüren: zum Beispiel ob das Auto untersteuert oder übersteuert. Vor allem im Hinblick auf das neue Reglement mit der Hybridtechnik ist jede Sekunde im Simulator wertvoll, weil wir auch Strategien ausprobieren können."

Im Kontrollraum. Ein paar Mausklicks und schon hat Fritzsche mithilfe der Software ein neues Set-up eingestellt. Für eine Fahrzeugabstimmung kann er aus einem Fundus von mehr als 1000 Parametern schöpfen. Der Fantasie sind keine Grenzen gesetzt. "Die wichtigsten Set-up-Einstellungen sind Strategie, Aerodynamik und Balance. In der Theorie könnten wir sogar ein Auto mit 5000 PS simulieren oder eines, das nur zehn Gramm wiegt." Das Grundkonstrukt dieses physikalischen Modells teilt man sich mit der Serienentwicklung bei Porsche. Die Methode ist die gleiche, in der Serie zählen allerdings andere Prioritäten als im Motorsport. Hier geht es darum, so nah an der Realität zu arbeiten, dass die virtuellen Rundenzeiten denen auf der Strecke entsprechen. Mehrere Rechner, die sich in großen Glasschränken türmen, geben die programmierten Daten an den Simulator weiter. Das Besondere an diesem Exemplar: Es steht auf sechs Stelzen, die wiederum mit drei weiteren Verlängerungen gekoppelt sind. Somit kann es neun statt nur sechs Freiheitsgrade abbilden. Während auf der Strecke die 4,5-fache Erdbeschleunigung auf den Fahrer einwirkt, spürt er in dem Nachbau immerhin die 3,5-fache - wenn auch nur für kurze Zeit. Zu einem realistischen Fahrgefühl gehört außerdem eine authentische Streckengrafik. Dafür werden die Rennstrecken mit Lasertechnik vermessen, sodass der Fahrer selbst Details wie Bodenwellen wahrnimmt.

Wie realitätsnah der Simulator wirklich ist, kann man sich nur schwer vorstellen, wenn man nicht selbst einmal im Cockpit Platz genommen hat. Klick, klick. Die Gurte sind festgezurrt, innerhalb weniger Sekunden stehe ich plötzlich in der Boxengasse von Le Mans. Neben dem Lenkrad ein Haufen Knöpfe, von denen ich gar nicht alle Funktionen wissen will. Mein Herz klopft wild, als ich aufs Gaspedal trete und losfahre. Es dauert nicht lange, bis ich bei meiner Suche nach der Ideallinie über die Curbs fahre und plötzlich durchgeschüttelt werde. Während ich zum Runterschalten an den Schaltwippen ziehe, höre ich über die Kopfhörer, wie der Motor aufheult. Am Streckenrand entdecke ich sogar die Wohnwagen der Fans.

Nach ein paar Minuten kann ich Hartley nachfühlen. Mein Magen fühlt sich flau an. Es fällt mir schwer, mich zu konzentrieren. Ich bin nur einen kurzen Moment abgelenkt, da verliere ich die Kontrolle über das Auto. Die Leitplanke kommt immer näher. Ich stelle mich auf einen heftigen Schlag ein … Nichts. Stattdessen höre ich Fritzsche über das Mikrofon sagen: "Alles okay, das kann passieren. Du musst auf die Pause-Taste drücken und dann auf Reset." Einen Augenblick später stehe ich wieder auf der Strecke und kann ohne Schäden am Auto weiterfahren. Ich muss grinsen, denn der Reset-Knopf für den echten Rennwagen muss erst noch erfunden werden.

Eine Runde mit Brendon Hartley:

1 Tertre Rouge
"Es ist eine sehr schnelle Kurve, bei der man den Kurveneingang richtig erwischen muss. Wegen der anschließenden langen Geraden ist die Ausfahrt entscheidend für die Rundenzeit. Man muss auf den perfekten Scheitelpunkt achten und auf die Curbs aufpassen, sie können dein Rennen beenden."

2 Schikane 1 und 2
"Die beiden Schikanen sind ähnlich, nur spiegelverkehrt. Wir kommen jeweils mit über 320 km/h an, und fahren dann im zweiten Gang durch. Dieser Abschnitt führt über öffentliche Straßen. Wichtig ist es, die Scheitelpunkte richtig anzubremsen, um dann den Schikanenausgang perfekt nehmen zu können."

3 Mulsanne
"Die Anbremsphase ist vor der Mulsanne-Kurve entscheidend, wir schalten dort in den zweiten Gang herunter. Es ist ziemlich schwierig, das Auto gerade zu halten, nicht zuletzt wegen des Rechtsknicks kurz vor der Kurve. Hat man dann noch langsamere Autos vor sich, wird's knifflig."

4 Indianapolis
"Den Rechtsknick vor der India­napolis nehmen wir im sechsten Gang und tippen das Bremspedal nur ganz leicht an. Wegen der direkt anschließenden Linkskurve ist es wichtig, das Auto am Ausgang der Rechtskurve innen zu halten."

5 Arnage
"Das ist der langsamste Teil der Strecke, den wir im ersten Gang fahren. Es scheint dort immer schmutzig zu sein, man hat nur sehr wenig Grip. Der Fokus sollte auf dem Kurvenausgang liegen. Am Streckenrand sieht man dort oft den Rauch von den Grills der Fans aufsteigen. Davon darf man sich nicht zu sehr ablenken lassen."

6 Porsche-Kurven
"Das ist meine Lieblingspassage, weil sie so schnell ist. Wir kommen im fünften Gang an. In der langen, schnellen Rechtskurve ist es nicht einfach zu überholen. Wenn man zu ungeduldig ist, riskiert man einen Unfall. Ohne Verkehr macht diese Kurve richtig Spaß. Anschließend geht es im sechsten Gang fast mit Vollgas durch die beiden Linkskurven. Dabei ist es wichtig, so präzise und nah wie möglich am Curb entlangzufahren, ohne ihn zu berühren. Sonst versetzt es das Auto. Die letzte Linkskurve ist die schwierigste, weil sie nach außen abfällt und man dadurch schnell den Scheitelpunkt verfehlen kann. Diese Passage trennt die Jungs von den Männern, danach bist du definitiv hellwach."

7 Start und Ziel
"Bei Nacht sieht man hier all die Lichter und das Riesenrad. Es ist wie eine eigene Welt. Man spürt diese Atmosphäre auch im Auto. Bei der Einfahrt zur Boxengasse ist Vorsicht geboten, sie ist sehr eng und oft schmutzig."

Text: Charlotte Tiersen
Fotografie: Jürgen Tap