Porsche - Auf den Spuren der Rückkehr

Auf den Spuren der Rückkehr

Es ist keine zufällige Zahlenfolge: 918 Spyder und 919 Hybrid haben vieles gemeinsam. Um einen Vorgeschmack auf das 24-Stunden-Rennen zu bekommen, besucht der High-End-Straßensportwagen das Terrain des LMP1-Rennwagens - eine Reise mit Werksfahrer Marc Lieb nach Le Mans.

Auf der Autoroute de l'Est, irgendwo zwischen Elsass und Champagne. Im linken Rückspiegel taucht plötzlich ein blaues Polizeiauto auf. Marc Lieb schaut auf den Tacho: 130 km/h - er hält die auf französischen Autobahnen erlaubte Höchstgeschwindigkeit. Doch der Streifenwagen überholt nicht, bleibt auf gleicher Höhe. Blickkontakt. Die Polizisten betrachten neugierig den rot-weißen Porsche 918 Spyder mit seinem Heckflügel aus schwarzem Carbon. Der Fahrer lächelt und streckt dann anerkennend einen Daumen in die Höhe. Sein Kollege hält das Mobil­telefon an die Scheibe und macht ein Erinnerungsfoto von dem Supersportwagen. Der Porsche-Werksfahrer lächelt zurück und winkt. In diesem Fall hat er sich ausnahmsweise mal gern überholen lassen.

Freie Fahrt Richtung Le Mans.

Vor zwei Stunden ist Marc Lieb in Stuttgart-Zuffenhausen gestartet. Vor der französischen Grenze konnte er, ganz legal, kurz auf 283 km/h beschleunigen. Aber jetzt strahlen seine blauen Augen, auch wenn die Geschwindigkeitsbeschränkung viel niedriger liegt. Solch positive Gefühle auszulösen, das ist auch für einen Berufsrennfahrer nicht alltäglich. Für Lieb ist diese Ausfahrt ohnehin etwas Besonderes, eine Art privater Antrittsbesuch. Der Porsche-Werksfahrer wird im Juni am Steuer des neu entwickelten 919 Hybrid das 24-Stunden-Rennen von Le Mans in der LMP1-Klasse bestreiten. Das ist die höchste Kategorie - hier kämpfen die großen Firmen mit ihren Prototypen um den Gesamtsieg. Nach 16 Jahren ist Porsche wieder dabei.

Marc Lieb ist 33 Jahre alt. Ohne Helm, HANS (Head and Neck Support) und Overall wiegt er 72 Kilo. Sein schmales Gesicht ist fein geschnitten, der ganze Mann widerlegt so ziemlich alle Macho-Rennfahrer­klischees. Obendrein ist er Ingenieur bei Porsche und seit drei Jahren an der Entwicklung des 919 Hybrid beteiligt. "Alles muss so abgestimmt werden, dass es für alle Fahrer passt", sagt er. Beim 24-Stunden-Rennen wechseln sich pro Auto drei Fahrer ab. Beim Lenkrad zum Beispiel mussten sie sich einigen, welche Wippen und Knöpfe wo auf der Prallplatte angeordnet werden sollen. In dem Cockpit, das er jetzt vor sich hat, ist alles von vornherein klar. Lieb bedient es mit der Sicherheit eines versierten Pianisten.

Unter den Straßenfahrzeugen kommt der 918 Spyder dem 919 Hybrid am nächsten. Sein Hybridantrieb aus Verbrennungsmotor plus jeweils einem Elektroaggregat an Hinter- und Vorderachse hat eine Gesamtleistung von 652 kW (887 PS), die Höchstgeschwindigkeit liegt bei 345 km/h. Die Sitzposition ist fast so tief wie im Rennwagen, auf der Fahrt nach Le Mans bekommt der Begriff Sportwagen eine neue Bedeutung: Bei jeder Mautstation muss sich Marc Lieb abschnallen, aus dem Schalensitz hieven und den Oberkörper durchs geöffnete Seitenfenster nach oben recken - anders kommt er nicht an den Schlitz für die Kreditkarte heran. Auf der Höhe, in der sich bei herkömmlichen Autos der Seitenspiegel befindet, glänzt beim 918 Spyder das abnehmbare Carbondach.

Bis Le Mans kommen ziemlich viele Mautstationen. Die Stadt liegt 200 Kilometer südwestlich von Paris. Sie hat 143000 Einwohner, eine alte Kathedrale und einen neuen Bahnhof für den Hochgeschwindigkeitszug TGV (train à grande vitesse). Ohne ihre Rennsportgeschichte wäre diese Provinzstadt kaum weiter erwähnenswert. Aber hier fand im Jahr 1906 der erste Grand Prix der Welt statt. Und seit 1923 wird an einem Samstagnachmittag im Juni das 24-Stunden-Rennen gestartet. In Le Mans angekommen, begibt sich Lieb sofort auf die Spurensuche nach dem Circuit des 24 Heures. Bis heute besteht der größte Teil der aktuell 13,6 Kilometer langen Rennstrecke aus öffentlichen Straßen. Nach dem Start geht es durch den Dunlop-Bogen, an der Bar Tertre Rouge beginnt die legendäre Hunaudières-Gerade nach Mulsanne. Englische Rennfahrer nennen sie Mulsanne Straight, und meistens sprechen sie diesen Namen mit Bewunderung aus.

Das Bewundernswerte daran: Die Gerade führt fast fünf Kilometer durch eine flache Landschaft. Rechts kommt ein Schnellimbiss, dann ein Möbelhaus, das für Sessel der Marke Stressless wirbt. Lieb überholt mit gebührendem Abstand einen Mountainbiker, der mit schlammverschmiertem Trikot von einer Trainingstour kommt. Mobilität hat in den Wäldern um den Rennkurs viele Gesichter.

Lediglich die dreifachen Leitplanken lassen erkennen, dass diese Landstraße durch Wald und Feld eine Rennstrecke ist. Und Liebs Tonfall. Von Stuttgart bis Le Mans hat er gut 820 Kilometer lang Fragen beantwortet, freundlich und kompetent. Doch wenn der Beifahrer keine Fragen gestellt hat, hörte man im Auto nur den Achtzylindermotor, der unter den beiden Top-Pipes sehr nach Rennwagen klingt. Marc Lieb ist hinter dem Steuer stets im Entspannungsmodus, er parliert gelassen über die Vorzüge des Spyder und kommentiert die Fahrt durch die Landschaft, die an die Anfangssequenzen des berühmten Le-Mans-Films von Steve McQueen erinnert. Kaum auf der Hunaudières, verwandelt sich der sachliche Ingenieur in den leidenschaftlichen Rennfahrer. Jetzt sprudeln die Geschichten nur so aus ihm heraus, die Straße wird zu einem Band der Emotionen.

Das Interview verläuft im Renntempo, der Reporter kommt kaum mit den Notizen nach. In der ersten Schikane: "Bei Nacht findest du auf der Straße keinen Bremspunkt - du musst dich an den Schildern orientieren." Die "Happy Hour" kommt bei Sonnenaufgang am Sonntagmorgen. "Dann sind der Asphalt und die Luft noch kühl von der Nacht", sagt Lieb, "aber du siehst wieder alles und bist pro Runde ein bis zwei Sekunden schneller." Am Ausgang der Schikane demonstriert er einen Vorteil des Hybridantriebs: Der 95 kW (129 PS) starke Elektromotor auf der Vorderachse macht den 918 Spyder zum Allradler. "Das Auto wird stabiler, ich kann deutlich schneller aus der Kurve beschleunigen."

Jetzt geht es in die Mulsanne-Kurve. Im Rennen bremst Lieb hier brutal von mehr als 300 km/h herunter auf 70. Es ist eines der spektakulärsten, wiederkehrenden Manöver im Lauf des Langstreckenklassikers, vor allem in der Nacht. Bremsen bedeutet beim Hybridrennwagen nicht einfach Verzögern: Die mechanische Energie, die dabei entsteht, wird in elektrische umgewandelt und in die Batterie eingespeist. Effizienz pur.

Kurz vor der Zielgeraden kommen die Porsche-Kurven. Diese Kombination mag Lieb besonders. "Fünfter Gang - sie gehören zu den schnellsten Kurven überhaupt, da brauchst du Mut." Aber er darf nicht unvorsichtig werden. Für Sportwagenpiloten gilt die Mahnung: "Du kannst Le Mans nicht in einer Runde gewinnen. Aber in einer Kurve kannst du das Rennen verlieren."

Hinter Reifenstapeln leuchtet gelber Ginster. Pappeln und Birken säumen die Straße. Auf einer Wiese ist ein Flohmarkt aufgebaut. Beim Rennen ist hier noch mehr los, zelten Motorsportfans aus aller Welt. Le Mans ist der bodenständige Gegensatz zu den sterilen Formel-1-Kursen, die an irgendeinem Computer entworfen worden sind. Die unverstellte Provinz bildet die Kulisse für die Rennwagen der Prototypen-Klasse.

Zum Beispiel in Teloché, einem Dorf südlich der Strecke. Das Rathaus ist nur ein Stockwerk hoch, ein paar Häuser weiter stehen zwei Zapfsäulen vor einer kleinen Autowerkstatt mit der Aufschrift "Reparaturen aller Fabrikate". Ein Plakat im Fenster wirbt für eine ländliche Diskothek. Auf der Hebebühne bekommt ein Fahrzeug gerade neue Bremsbeläge, an der Wand hängen Keilriemen und Bowdenzüge.

Als Porsche 1951 zum ersten Mal in Le Mans startete, haben die Mechaniker in dieser Werkstatt die Autos auf das Rennen vorbereitet. Das war auch 1970 so, als Hans Herrmann und Richard Attwood mit dem 917 Kurzheck den ersten Gesamtsieg holten. Erst 1981 zog Porsche um in die Boxengasse an der Zielgeraden.

Der Betreiber dieser Werkstatt ist viel zu bodenständig, um ein Museum einzurichten. Kein Souvenir und kein Schriftzug weisen auf dieses Kapitel der Porsche-Renngeschichte hin. Lediglich Madame Sergent, die im Büro die Kasse macht, holt ein Album aus dem Schrank und zeigt stolz die Fotos: Jacky Ickx im Gewusel der Mechaniker; der 356 von 1951, dessen Kühlerhaube mit zwei Lederriemen festgezurrt wurde.

Diese kleine Werkstatt zeigt, dass Porsche untrennbar mit Le Mans verbunden ist. Auch nach dem Ausstieg aus der LMP1-Kategorie 1998 - das Jahr des bis dato letzten Gesamtsiegs - seien in der Rennwoche immer wieder Leute gekommen und hätten sich nach der Porsche-Werkstatt erkundigt, erzählt Madame Sergent.

Ob Marc Lieb den 918 Spyder für ein Foto in die Garage stellen darf? "Bien sûr", aber gern. Im Nu sammelt sich eine Traube von Menschen, wieder werden Handys zum Fotografieren gezückt, als Lieb im E-Modus heranrollt. Der Supersportwagen fährt so leise wie ein Fahrrad. Lediglich das Abrollgeräusch der Reifen ist zu hören. Und ein paar Splitsteinchen, die gegen den Unterboden prasseln. "Welche Reichweite hat der E-Motor?", fragt ein Mechaniker. "30 Kilometer", antwortet Lieb. "Wie schnell fährt er elektrisch?" "150 km/h." Es ist wie lebendiges Autoquartett.

In Le Mans wird die Tradition des Motorsports spürbar. Auch Marc Lieb ist bereits ein Teil dieser großen Historie, er hat hier schon in der GT-Klasse gewonnen. Am Ende unserer Tour fährt er noch einmal auf die Start- und Zielgerade, stellt den 918 Spyder in der Startaufstellung ab, steigt aus. Er lehnt an der Fahrertür, den Blick nach vorn gerichtet. Am 14. Juni wird er hier mit dem 919 Hybrid unterwegs sein. Zum ersten Mal gehört er dann zu jenen Fahrern, die um den Gesamtsieg kämpfen.

Er wird schon erwartet.

Text: Johannes Schweikle
Fotografie: Victor Jon Goico