Von Wut und Leere.

Woher kommt das menschliche Bedürfnis zu helfen? Bei Serkan Eren begann es mit Wut. Er hatte einen anstrengenden Tag als Lehrer hinter sich und saß abends in einer Bar. Dort hörte er anderen Gästen am Nachbartisch zu, die sich unterhielten. Doch es blieb nicht beim Zuhören, denn die Gäste gaben so viele rassistische, sexistische und menschenverachtende Dinge von sich, dass Serkan es vor Wut nicht mehr aushielt. Er mischte sich ein, konfrontierte die Männer und bekam am Ende sogar Applaus von den anderen Gästen. Ein tolles Gefühl, so beschreibt er es. Nicht ruhig geblieben zu sein, sondern sich eingemischt zu haben, etwas bewegt zu haben. Doch auf dem Weg nach Hause drehte sich dieses Gefühl ins totale Gegenteil. Serkan begann sich selbst zu hinterfragen und erlebte eine Sinnkrise im Schnelldurchlauf. „Was ist eigentlich dein Mehrwert für die Gesellschaft?“, fragte er sich. Als er zu Hause Nachrichten sah, änderte sich seine Stimmung erneut. Es lief ein Beitrag über hungernde und frierende Kinder in Slowenien – und Serkan dachte sich: „Wie kann es sein, dass vier oder fünf Stunden von mir entfernt solches Leid geschieht?“ Er packte Konserven und Decken ein und wollte direkt losfahren. Aus dem Gefühlsgemisch von Wut, Verzweiflung und Ohnmacht war ein Traum entstanden. Der Traum, Menschen in Not zur Seite zu stehen. Serkan Eren wusste es zu diesem Zeitpunkt nicht, aber dieser Tag sollte sein komplettes Leben verändern.

Wenn man etwas Neues machen will, darf man nicht viel Ahnung von der Materie haben.
Serkan ErenGründer der Hilfsorganisation STELP
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Wie funktioniert echte Nothilfe?

Es war einem Freund von Serkan Eren zu verdanken, dass die erste Hilfsaktion nicht vollends Hals über Kopf vonstatten ging. Dieser Freund erfuhr nämlich von Serkans Vorhaben, mit dem Auto nach Slowenien zu fahren, und riet ihm, die Sache größer aufzuziehen. Also haben die beiden bei Freunden, Verwandten und Bekannten weitergesammelt, einen Transporter gemietet und sind dann etwas später, aber geplanter und mit mehr Hilfsmaterialien als gedacht losgefahren. Und doch stellte sich heraus: Auf das Leid vor Ort kann man sich nicht vorbereiten. Letzten Endes fuhren Serkan und sein Freund statt nach Slowenien nach Griechenland und halfen geflüchteten Menschen. Trotz des unsäglichen Leids, dem er dort begegnete, stellte Serkan fest, wie viel er als Einzelperson ausrichten kann. Wie vielen Einzelschicksalen er begegnen und deren Leben er verbessern kann. Er spürte die Wärme, die entstand, wenn er für ein ansonsten hilfloses, frierendes Kind mit einer Decke und Essen nicht nur einen Moment der Linderung geschaffen hatte, sondern ihm sogar das Leben gerettet hatte. Serkan träumte davon, genau diese Hilfe häufiger anbieten zu können – und entschied, eine weitere Tour zu planen. Durch Presseberichte von seiner Reise und die dadurch erhöhte Spendenbereitschaft kamen beim nächsten Mal schon drei LKW-Ladungen zusammen, die Serkan und seine Volunteers auf die griechische Insel Chios brachten. Auch hier begegnete Serkan wieder unglaublichen Schicksalen – doch er sah, wie viel sein Team und er erreichen und verändern konnten. Und er beschloss, diese Hilfsaktionen von nun an regelmäßig durchzuführen.

Ich weiß, dass ich die Welt nicht ändern kann. Aber ich kann viele kleine Welten verändern.
Serkan ErenGründer der Hilfsorganisation STELP
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Die neue Art der Hilfe.

Serkan stand vor einer schweren Entscheidung: Auf der einen Seite war da sein gesicherter Job als Lehrer, ein festes Einkommen, die Möglichkeit, junge Menschen in Deutschland auf ihrem Weg zu begleiten. Auf der anderen Seite der dringende Wunsch, Menschen in Krisenregionen zu helfen. Aber auch die ständige Konfrontation mit dem Leid, psychische Belastungen und finanzielle Unsicherheit. Serkan merkte, dass er diese Entscheidung treffen musste, denn beide Leben ließen sich auf Dauer nicht mehr miteinander vereinbaren. Als er merkte, dass er die Sorgen und Nöte seiner Schülerinnen und Schüler ins Verhältnis zu dem Leid setzte, das er auf seinen Missionen zu bekämpfen versuchte, war seine Entscheidung gefallen. Er würde sich von nun an mit voller Kraft und seiner ganzen Zeit der Nothilfe widmen. Serkans erster Schritt war, seinem Traum eine feste Form zu geben: Er gründete STELP. Und er dachte grundlegend über das Prinzip der Hilfsorganisation nach. Seine Leitfrage: „Muss das eigentlich so sein, wie es bisher immer war?“ Mit Klingelbeuteln, schlechtem Gewissen und irgendwie uncool. Er beschloss, die ganze Sache anders aufzuziehen. Involvierender, jünger und mit einem guten Gefühl. Zwar auch mit klassischen Spendengalas und prominenter Unterstützung (Fußballtorwart Timo Hildebrand ist Vorstandsmitglied bei STELP). Aber eben auch mit einem Weltrekord für einen Tischtennis-Rundlauf mit 400 Menschen, um Aufmerksamkeit zu generieren. Und mit Social Businesses wie der Bar NATAN in Stuttgart. Aufgebaut und betrieben wurde und wird sie von Volunteers und auch mit Unterstützung von Porsche – 100 % der Gewinne fließen in die Hilfsprojekte von STELP. So können die Gäste der Bar einfach eine gute Zeit haben – und unterstützen quasi nebenbei mit dem Umsatz, den sie generieren. Serkan Eren ist seit 2018 hauptamtlich bei STELP tätig und glaubt fest daran, dass man seine Träume und Ziele nur erreichen kann, wenn man mit einer gewissen Naivität an die Sache herangeht. Denn nur dann ist man frei und kreativ genug, um neue Wege zu gehen. Und um einen Unterschied zu machen – so wie Serkan es täglich für tausende Menschen tut.

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Wir sehen St. Vincents Gesicht in einer Nahaufnahme von der Seite. Sie sieht zufrieden aus und lächelt ein wenig.